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1066-Prinzip


Mathematik-Didaktik


Grundidee


Dass man nicht das unterrichtet, was die Lernenden nach eigener Ansicht lernen sollten, sondern dass man sich stattdessen beschränkt auf das, was sie am Ende wirklich behalten können, soll hier in Anlehnung an die Satire "1066 and all that" aus dem Jahr 1930 das 1066-Prinzip genannt werden. Dazu stehen hier einige Beispiele.

1066 and All That als Satire des Schulunterrichts


1066 ist eine von den zwei Geschichtsdaten, die sich Engländer nach dem Ende ihrer Schulzeit noch merken können[13]. Folglich sollten im Unterricht auch nur diese zwei Jahreszahlen behandelt werden: das ist die (satirisch gemeinte) Kernaussage des kleinen Büchleins "1066 and All That: A Memorable History of England, Comprising All the Parts You Can Remember, Including 103 Good Things, 5 Bad Kings and 2 Genuine Dates". Da kleine Buch erschien im Jahr 1930 und war ein beißender Spott auf den Geschichtsunterricht Englands[1]. Bereits der Titel enthält ein Wortspiel: memorable history kann man einerseits als erinnerungswürdig und andererseits als erinnerbar deuten. Tatsächlich legen die Autoren bereits in den ersten Zeilen ihres Buches ihr Ziel fest: sie schreiben die englische Geschichte nicht so wie sie war oder gelehrt werden sollte, sondern in Anlehnung an das, was Menschen längere Zeit nach dem Verlassen der Schule tatsächlich im Kopf behalten hatten[10][12]. Dass der satirisch verpackte Vorwurf eines wenig nachhaltigen Unterrichts tatsächlich auch zutraf, sah auch der Schriftsteller George Orwell (1984, Farm der Tiere) so[2].

Das 1066-Prinzip in der Mathematik


Der Satz des Pythagoras und die pq-Formel sind vielen Erwachsenen jahrzehntelange nach der Schule noch gut in Erinnerung. Daneben wird es dann oft schnell dünn und vage in der Erinnerung. Ist eine Funktion nicht so etwas mit Graphen? Kann man 7 wirklich durch 4 teilen oder geht das eigentlich gar nicht? Und muss eine Dezimalzahl immer ein Komma haben? Oder gibt es auch Dezimalzahlen ohne Komma?

Das 1066-Prinzip als didaktischer Pyrrhussieg


Als Pyrrhussieg bezeichnet man einen teuer erkauften Sieg, der langfristig eher zu einer Schwächung als einer Stärkung der eigenen Position führt[4]. Der Gedanke wird hier auf den Unterricht an Schulen übertragen. Wird etwas so erklärt, dass man als Lernender ein schnelles Erfolgserlebnis bekommen soll, ist das erst einmal gut. Daraus wird aber dann ein Pyrrhussieg, wenn die Art der Erklärung nicht wirklich zu einem tieferen Verständnis oder besseren Können beiträgt. Man kann zukünftig nicht auf dem vorher gelernten aufbauen. Als Lernender gerät man immer mehr in eine Abwärtsspirale. Der Effekt ist eng verwandt mit dem sogenannten Bulimielernen[5]. Während aber beim klassischen Bulimielernen der Stoff nach der nächsten Arbeit schnell vergessen werden darf, soll sich das 1066-Prinzip gerade auch auf Fertigkeiten beziehen, die eigentlich dauerhaft behalten werden sollten. Das Bulimielernen kann also eine durchaus angemessene Lernstrategie sein. Lernen nach dem 1066-Prinzip ist immer ineffizient und sollte vermieden werden.

Erfahrungen aus der Mathe-AC Lernwerkstatt Aachen


Die folgenden Beispiele stammen aus der täglichen Arbeit mit Kindern aus dem Vorschulalter bis hin zu Studenten und erwachsenen Meisterschülern in unserer Lernwerkstatt in Aachen[3]. Alle genannten Beispiele sind wirklich auch so passiert und nicht hypothetisch. Betrachtet man das wirklich anwendbare Wissen vieler Erwachsener mehrere Jahre nach dem Verlassen der Schule, so ist von vielen Fächern oft nur das hängen geblieben, was man in einem Kompaktkurs innerhalb von einem oder wenigen Tagen lernen könnte. Man darf dabei nicht an die Fächer denken, die man später für den Beruf weiter verfolgte, oder die einen als Hobby interessieren, sondern jene, die man oft jahrelang in der Schule hatte, die einen vielleicht auch interessierten, die man aber nach der Schule nicht weiter verfolgte.

Beispiel 1: Proportionalität: leicht verständlich aber falsch


Immer wieder zitieren Schüler der Klassen 7 bis 9 sinngemäß den Satz "wenn x größer wird und wenn dann auch y größer wird, dann ist etwas proportional". Das ist eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für Proportionalität. So gilt der Spruch auch für lineare Beziehungen von x und y oder sogar auch für quadratische, etwa der Form y=x². Da aber in "der nächsten Arbeit" nur Zuordnungen vorkommen, die jede Doppeldeutigkeit umgehen, kann der Spruch von Lehrern genutzt werden. Bis hin in die Oberstufe beobachten wir, dass Schüler unter Anwendung dieses Satzes zum Beispiel Exponentialfunktionen fälschlicherweise für proportional halten. Die korrekte Sprechweise im Sinne eines Prüfspruches für Proportionalität wäre: "wenn sich x- und y-Werte immer gemeinsam halbieren oder verdoppeln, dann - und nur dann - ist eine Zuordnung proportional." Dieser Spruch wird von Schülern aber meist nicht sehr schnell verstanden. Man muss ihn an vielen Beispielen verdeutlichen oft auch auch mehre Stunden lang wiederholt diskutieren. Wo aber keine Zeit für diesen erhöhten Aufwand ist, greifen Lehrer dann anscheinend auf die provisorische Lösung im Sinne des 1066-Prinzips zurück. Siehe auch Proportionalität ↗

Beispiel 2: Funktionen: das Thema mit den Graphen


Um 2008 frug ich vier Erwachsene, davon drei in Lehrberufen, wie das Wort Funktion zu definieren sei. Drei von den vier Erwachsenen antworten sinngemäß dahingehend, dass eine Funktion f(x) etwas mit einem Graphen zu tun haben müsse. Dazu passend beobachten wir auch in der Lernwerkstatt, dass der tatsächlich Funktionsbegriff (eindeutige Zuordnung) vielleicht einmal kurz erwähnt wird, nicht aber durch ständige Wiederholung durch durch ein tieferes Durchdenken vermittelt wird. Siehe auch Funktion ↗

Beispiel 3: Steigung: eins nach rechts und dann nach oben


Die Steigung einer Funktion wird oft anhand des Steigungsdreiecks vermittelt. Bei vielen Schüler ist die Idee präsent, dass die Steigung dann die Höhe (das Delty-y) dieses Steigungsdreiecks ist, wenn seine Breite (das Delta-x) genau 1 ist: "die Steigung kriege ich, wenn ich eins nach links gehe und dann zähle, wie weit ich nach oben oder unten gehen muss." Diese Definition fand ich sogar in einem gedruckten Skript für Studenten der Fachhochschule Aachen. Die Definition gilt aber nur für Bereiche, in denen der Graph einer Funktion eine Gerade ist. Bei allen anderen Arten von Graphen kann diese Definition zu großen Fehlern führen. Allgemein richtig wäre die Definition: Die mittlere Steigung einer Funktion zwischen zwei Punkten ist vom Betrag her gleich dem Verhältnis von Delta-y zu Delta-x. Auch hier müsste man noch einige Zeit damit verbringen, das Wort Betrag zu diskutieren und auch über positive und negative Steigungen sprechen. Da aber so gut wie kein Schüler - oder Student - etwas mit dem Schlüsselbegriff Verhältnis anfangen kann, fallen anscheinend viele Lehrer auf die einfachere 1066-er-Version der Steigung zurück. Siehe auch Steigung als Verhältnis ↗

Beispiel 4: E-Technik ohne Brüche


Ein Professor an der Hochschule München erzählte um 2018, dass Studenten der Ingenieurwissenschaften große Probleme mit Brüchen hätten[6]. Da aber die Klausurergebnisse nicht zu schlecht ausfallen dürfen (Vorgaben der Hochschulleitung), lässt er Brüche subtil weg. So enstehen Absolventen der Ingenieurfächer, die in Sachen Bruchrechnung auf Taschenrechner angewiesen sein werden. Derselbe Professor erzählte 2023, wie schmerzhaft die Hochschule die Frage diskutiert, ob die Prüfungsstandards weiter abgesenkt werden sollten, etwa um sinkenden Neueinschreibungen entgegenzuwirken, der aber die Prüfungsanforderungen aufrecht erhalten werden sollten, selbst auf die Gefahr schwindender Studierendenzahlen. Wenn man sieht, wie flüchtig nur auf die nächste Arbeit hin die Bruchrechnung in den Klassen 5 bis 6 behandelt wird, dann passt auch dieses Beispiel auf das 1066-Prinzip. Siehe auch Bruchrechnung ↗

Beispiel 5: Einheiten umrechnen mit Tabellen


Dass 1,4 Meter 140 Zentimeter sind bekommen die meisten Schüler in der Klasse 9 hin (aber bei weitem nicht alle). Wenn man aber 40 Quadratmillimeter in Quadratmeter umrechnen soll, sieht es schnell anders aus. Dabei zählt das Rechnen mit Einheiten zu praktischsten Grundfertigkeiten im Handwerk und in allen naturwissenschaftlichen und technischen Fächern. In vielen Schulbüchern der Klassen 5 bis 7 finden wir Tabellen und Merkregeln zum Multiplizieren oder Divieren mit Zahlen wie 10, 100, 1000 oder 10000. Niemand kann sich auf Dauer solche Tabellen merken. Es gibt zwar nachhaltige Methoden zum Umrechnen von Einheiten[11]. Doch diese sind für Kinder der frühen Jahrgangsstufen zu abstrakt. Stattdessen greift man auf Hilfserklärungen im Sinne des 1066-Prinzips zurück, hakt dann im Lehrplan das Thema ab und hat am Ende Schüler im Physik-LK oder in einem technischen Studiengang, die 40 mm² nicht sicher und schnell in Quadratmeter umrechnen können[8]. Siehe auch Rechnen mit Einheiten ↗

Beispiel 6: Und plötzlich ist es null: der Limes-Gedanke


Die Idee des Grenzwertes, des Limes, hat in der Mathematik Jahrhunderte gebraucht, bis er klar gefasst wurde[12]. Er ist also nichts Offensichtliches. In der Schule taucht er oft im Zusammenhang mit der Idee der Steigung an einem Punkt als sogenannte h-Methode oder dem Differentialquotienten auf. Die Schüler sollen dann erfassen, dass der Grenzwert von 1/x (eins geteilt durch x) exakt 0 ist. Wie soll man das verstehen? Egal welche Zahl man für x auch einsetzt, der Wert des Bruches ist niemals 0. Der Wert des Bruches wird immer eine bestimmte Entfernung zur Zahl 0 haben. Was bedeutet dann die Aussage, der Grenzwert sei 0? Hier hören wir in der Lernwerkstatt oft Erklärungen der folgenden Art: "irgendwann wird der Unterschied zu 0 quasi unendlich klein[9]." Oder: "die Werte gehen immer näher an Null heran, ohne jemals null zu werden." Beide Aussagen sind falsch und helfen auch nicht zum Erfassen der Idee eines Grenzwertes. Siehe auch Grenzwert ↗

Fußnoten