Zellseelen und Seelenzellen
Biologie
Basiswissen
Der Biologe Ernst Haeckel (1834 bis 1919) ging von einer generellen Beseelung der belebten Materie aus. Einige Schlüsselstellen aus einem Vortrag Haeckels aus dem Jahr 1878, der später als Büchlein veröffentlich wurde, sind hier kurz zitiert und kommentiert.
Zur geschichtlichen Einordnung
Ernst Haeckel hatte vor allem im 19ten Jahrhundert geforscht und gewirkt. Dieses Jahrhundert war von einer weiteren Zuspitzung einer alten philosophischen Streitfrage geprägt: Ist unserer Welt ganz durch rein mechanische Gesetze ihrer materiellen Bauteile bestimmt? Oder aber durchwirken geist- und seelenartige Substanzen diese Welt und stellen das eigentlich Wesentliche dar? Haeckel hatte weite Teile der Welt bereist und umfangreiche Forschungen, vor allem an den Lebewesen des Meeres unternommen. Viele Ähnlichkeiten zwischen den Meereswesen und Menschen, machten es für ihn offensichtlich, dass bereits Zellen erste Seelenregungen zeigen, die sich dann in mehrzelligen Organismen zu höherer Formen weiter entwickeln. Haeckels Gedanken sind bis heute weder widerlegt noch bewiesen, ganz einfach weil jede klare Definition einer naturwissenschaftlich "messbaren" Seele fehlt. Die folgenden Zitate zeigen eine verblüffende Vielfalt und Tiefe an Phänomenen der lebendigen Welt. Diese, und das war die Absicht Haeckels, sollten uns mindestens vorsichtig machen, zu glauben, dass wir als Menschen die einzig psychischen Wesen auf der Erde seien.
Zur Einstimmung: Haeckels beseelte Lebenswelt
„Die wundervollste aller Naturerscheinungen, die wir herkömmlich mit dem einen Worte 'Geist' oder 'Seele' bezeichnen, ist eine ganz allgemeine Eigenschaft des Lebendigen. In aller lebendigen Materie, in allem Protoplasma müssen wir die ersten Elemente des Seelenlebens annehmen, die einfache Empfindungsform der Lust und Unlust, die einfache Bewegungsform der Anziehung und Abstoßung – Nur sind die Stufen der Ausbildung und Zusammensetzung dieser 'Seele' in den verschiedenen lebendigen Geschöpfen verschieden; sie führen uns von der stillen Zellseele durch eine lange Reihe aufsteigender Zwischenstufen allmählich bis zur bewußten und vernünftigen Menschenseele hinauf.“[2, dort das Kapitel 6: Das Wesen der Seele (Seite 54).] Siehe auch Holismus und Evolution ↗
Haeckel über die Psyche von Radiolarien
Radiolarien, auch Strahlentierchen genannt, sind kleine Einzeller, die im Wasser leben und oft wunderschöne Skelette aus Opal (SiO2) bilden. Haeckel schreibt, dass vor allem sie ihn zu der Idee beseelter Einzeller führen. Er schreibt: "Maßgebend für meine Überzeugung vom Seelenleben der Zelle wurden vor allem meine langjährigen Studien über die Radiolarien, die sich über einen Zeitraum von 28 Jahren ausdehnten (von 1859 - 1887). Denn in dem einzelligen Organismus dieser wunderbaren Rhizopoden, von denen ich in meiner Monographie (1887) mehr als 4300 Arten beschreiben konnte, offenbart sich die psychische Tätigkeit des formlosen, noch nicht organisierten Plasma einerseits in der einfachsten, anderseits in der mannigfaltigsten und lehrreichsten Weise."[1, Vorwort]
Haeckels Stufenleiter der Tierseelen
"Auch ist ferner die Tatsache jetzt wohl allgemein anerkannt, daß mindestens ein Teil der Seelentätigkeiten, insbesondere Wille und Empfindung, bei den höheren Tieren sich ähnlich wie beim Menschen verhält; und eine psychologische Vergleichung der verschiedenen Tiere zeigt uns eine lange Stufenleiter von verschiedenen Entwicklungsraden der Tierseele"[1, Seite 6]." Sowie: "Erstens nämlich zeigt uns die vergleichende Seelenlehre der Tiere eine lange Stufenleiter der Entwickelung, auf der alle denkbaren Stufen der Vernunft und des Bewußtstseins vertreten sind, vom ganz unvernünftigen bis zum ganz vernünftigten Tiere, vom Schwamme und Polypen bis zum Hunde und Elefanten[1, Seite 22]." Siehe auch Stufenleiter ↗
Die Seele muss sich entwickeln
"Unzweifelhaft unterliegt die Seele in jedem einzelnen Menschen wie in jedem Tiere einer langsamen, allmählichen und stufenweisen Entwickelung. Das ist eine psychologische Tatsache von grundlegender Bedeutung. Auch die größten Denker aller Zeiten, auch Aristoteles und Plato, Spinoza und Kant sind einmal Kinder gewesen; auch ihre gewaltige, weltumfassende Denkerseele hat sich stufenweise und allmählich entwickelt.[1, Seite 7]" Sowie: "Zweitens sehen wir an jedem Kinde, wie an jedem höhere Tiere, daß Vernunft und Bewußtsein bei der Geburt noch nicht vorhanden sind, sondern sich erst langsam und allmählich entwickeln[1, Seite 22 f.]" Siehe auch Bewußtsein ↗
Die Seele hat ihre Organe, einen Seelenapparat
"Die erste, allgemeinste und wichtigste Tatsache, welche dem Naturforscher hier beim Beginne seiner psychologischen Forschung entgegentritt, ist die Abhängigkeit aller Seelentätigkeit von gewissen materiellen Teilen der Tierkörper, den Seelenorganen. Beim Menschen und bei den höheren Tieren sind solche Seelenwerkzeuge: die Sinnesorgane, das Nevensystem und das Muskelsystem; bei den niederen Tieren sind es Zellengruppen oder selbst einzelne Zellen, welche noch nciht zu Nerven und Muskeln sich gesondert haben. Jede Äußerung des Seelenlebens, jede psychische Arbeit ist unabänderlich an ein solches Organ geknüpft und ohne dasselbe nicht denkbar."[1, Seite 8] Sowie: "Die genannten Werkzeuge unseres Seelenlebens,nämlich 1. die Sinnesorgane, 2. das Nervensystem und 3. die Msukeln bilden zusammen einen einzigen großen Apparat, den wir mit einem Worte kurz als den Seelenapparat bezeichnen."[1, Seite 10]
Assozionen und Mischungen von Seelen
Haeckel ging davon aus, dass bereits organische Moleküle empfindsam seien[4]. Durch Verbindungen und Mischungen ergeben sich daraus höhere Zustände des Seelischen. In einem Lexikon des Jahres 1912 heißt zu den Vorstellung Häckels: "Die Psychologie ist nur ein Teil der Physiologie, Einen immateriellen Geist gibt es nicht. Das Seelenleben ist vielmehr »eine Summe von Lebenserscheinungen, welche gleich allen anderen an ein bestimmtes materielles Substrat gebunden sind«. Dieses Substrat ist das »Psychoplasma«, bei dein höheren Tieren das »Neuroplasma«. Durch Differenzierung und »Assozion« hat sich das menschliche Geistesleben aus dem tierischen entwickelt. Die Psyche ist nur ein »Kollektivbegriff für die gesamten psychischen Funktionen des Plasma«. Empfindung kommt schon den niedersten Organismen zu; es gibt ferner »Zellseelen«, »Gewebeseelen«, »Nervenseelen«. Die Psyche des Menschen entsteht durch »Seelenmischung« aus der Verschmelzung der. »Seelen« der Sperma- und Eizelle. Die empfindenden organischen Moleküle nennt H. »Pastidule«. Das eigentliche Bewußtsein ist an ein zentralisiertes Nervensystem geknüpft."[2]
Der Telegraph als Analogie
Nach einer kurzen Erläuterung der Nerven- und Sinneswerkzeuge eines Strudelwurms, vergleicht Haeckel den biologischen Seelenapparat mit der Kommunikationstechnologie Telegraph: "Will man sich eine klare Anschauung von der Tätigkeit eines solchen Seelenapparates, vom Wesen des Seelenlebens verschaffen, so hilft dazu am besten der oft wiederholte Vergleich mit einem elektrischen Telegraphensystem. Dieser bekannte Vergleich ist nicht allein durch die ganze Einrichtung des Seelenapparates gerechtfertigt, sondern namentlich auch daduch, daß bei den Verrichtungen desselben in der Tag elektrische Ströme die größte Rolle spielen"[2, Seite 14 f.] Haeckels Vergleich von Nerven mit Telegraphen erinnert an eine ähnliche Analogie, die rund 100 Jahre nach seiner Zeit populär werden sollte, die Idee vom Internet als einem Global Brain ↗
Arbeitsteilung und Gehirnzellen als Seelenzellen
Jeder noch so "gigantische Leib dieser größten Organismen" (Walfische, Elefanten, Eichen) beginnt mit einer einfachen Eizelle. Bald darauf treten "Sonderungen" auf und "die Zellen beginnen sich in die Arbeiten des Lebens zu teilen […] Die Magenzellen übernehmen die Verdauung, die Blutzellen den Stoffumsatz, die Lungenzellen die Atmung […] die Tastzellen der Haut lernen Druck- und Wärme-Schwankungen zu verstehen […] die schwierigste und glänzendste Laufbahn aber betreten die Nervenzellen, und unter diesen sind es wieder die genialen Gehirnzellen, welche im kühnen Wettlaufe den höchsten Preis erringen und als Seelenzellen sich über alle anderen Zellenarten hoch erheben. Diese bedeutungsvolle Arbeitsteilung der Zellen - oder wie der Anatom sagt die Gewebebildung - vollzieht sich bei der individuellen Entwickelung jedes Tieres und jeder Pflanze unter unseren Augen innerhalb weniger Tage."[1, Seite 16 f.] Sowie: "Wir müssen es als eine Tatsache von größter Bedeutung hervorheben, daß bei allen vielzelligen Tieren, vom Hydra-Polypen bis zum Menschen hinauf, die Arbeitsteilung der Zellen in dieser Weise mit der Sonderung der beiden primären Keimblätter beginnt, und daß überall der Seelenapparat aus Zellen des äußeren Keimblattes hervorgeht. Bei Tieren aller Klassen entstehen Nerven, Sinnesorgane und Muskeln aus dem 'Sinnesblatt oder Hautlatt der Gastrula'"[2, Seite 19]. Siehe auch Arbeitsteilung ↗
Haeckels biogenetische Grundregel
Die Entwicklung eines individuellen Wesens vollzieht die Entwicklung der biologischen Art in groben Zügen nach: "Die Gewebebildung, die wir so unter dem Mikroskope erstaunlich rasch sich entwickeln sehen, ist nur eine kurze, durch Vererbugn bedingt Wiederholung eines langen und langsamen historischen Prozesses, eines geschichtlichen Vorganges, der viele Jahrmillionen in Anspruch nahm, und bei welchem die Arbeitsteilung dre Zellen im eigentlichsten Sinne des Wortes, durch Anpassung an die verschiedenen Lebenstätigkeigkeiten der Zellen, im Kampfe ums Dasein allmählich entstand."[1, Seite 19 und 20]. Siehe auch biogenetische Grundregel ↗
Haeckels Zellenstaat
Haeckel vergleicht mehrfach die Biologie von Organismen mit Phänomen in menschlichen Gesellschaften: "Die Zellen verhalten sich dabei [bei der Gewebildung, siehe oben] ganz ebenso, wie die wohlerzogenen Staatsbürger eines gut eingerichteten Kulturstaates. In der Tat ist unser eigener Leib, wie der Leib aller höheren Tiere, ein solcher zivilisierter Zellenstaat. Die sogenannten 'Gewebe' des Körpers, Muskelgewebe, Nervengewebe, Drüsengewebe, Knochengewebe, Bindgewebe usw., entsprechen den verschiedenen Ständen oder Korporationen des Staates, oder noch genauer den erblichen Kasten, wie wir sie im alten Ägypten oder noch heute in Indien antreffen. Die Gewebe sind erbliche Zellenkasten im Kulturstaate des viellzelligen Organismus. Die Organe aber, die sich wieder aus verschiedenen Geweben zusammensetzen, sind den verschiedenen Ämtern und Instituten zu vergleichen. An der Spitze aller steht die mächtige Zentralregierung, das Nervenzentrum, das Gehirn. Je vollkommener das höhere Tier entwickelt, je stärker die Zellenmonarchie zentralisiert ist, desto mächtiger ist das beherrschende Gehirn, und desto großartiger ist der elektrische Telegraphenapparat des Nervensystems zusammengesetz, welcher das Gehirn mit seinen wichtigsten Regierungsbehörden, den Muskeln und Sinnesorganen, in Verbindung setzt."[1, Seite 20]. Siehe auch Zellenstaat ↗
Die Metapher vom Telegraph
Ein Telegraph, wörtlich ein Fernschreiber, war eine Art Vorläufer des Telephons. Übertragen wurden dabei kurze Signale, die beim Empfänger ein Schriftstück erstellten. So wurden im 19ten Jahrhundert Informationen über große Entfernungen übertragt. Für Haeckel eintspricht ein Telegraph der Biologie einer Nervenleitung in einem Organismus. So werden bei der Reizung der Haut eines Wurmes Daten übertragen: "Wenn wir denselben [einen Wurm] irgendwie rizen, wenn wir seine zarte Haut mit einer Nadelspitze oder mit einem kalten Eisstückchen berühren, so wird die damit verbundene Veränderung des Druckes oder der Temperatur sofort von den empfindelichen Hautzellen wahrgenommen welche als Grenzwächter überall an der äußeren Grenzfläche der Haut aufpassen; sie telegraphieren sofort ihre Wahrnehmung durch die Hautnerven an das Gehirn. Ebenso werden die Schallwellen, welche das Hörbläschen treffen, von den Hörzellen des letztere als Geräusche oder Töne empfunden und vom Hörnerve dem Gehirn telegraphisch gemeldet. Nicht minder senden die Sehzellen des Auges, die von einem Lichtstrahl getroffen werden, sofort ein Licht- oder Farbentelegramm an das Gehirn. Hier sitzt die hohe Regierung des Zellenstaates […] [1, Seite 21] Sie erteilen aber auch zugleich alle die Befehle des Willens, welche sofort durch die zentrifugalen Leitungsbahnen der Bewegungsnerven an die Muskeln ergehen"[1, Seite 22]. Die Frage, wie aus der Tätigkeit einzelner Zellen ein abgestimmter Wille, ein zielgerichtetes Handeln entstehen kann, betracht unter anderem die Neurowissenschaft unter dem Stichwort Bindungsproblem ↗
Fließender Übergang zum Unterbewusstsein
Bewusstsein ist nach Haeckel kein Phänomen, dass in scharfer und klarer Trennung entweder auftritt oder nicht sondern es tritt in vielen Abstufungen allmählich auf, von der unbelebten Materie zur belebten, vom ungeborenen Kind zum Erwachsenenen und auch: "Drittens endlich nehmen wir an uns selbst wahr daß eine scharfe Grenze zwischen bewußter und unbewußter Seelentätkgkeit so wenig als zwischen vernünftigem und und unvernünftigem Denken existiert, daß vielmehr diese Gegensätze ohne fixierte Grenze vielfach sich berühren und ineinander übergehen[1, Seite 24]."
Introspektion als Methode der Erkenntnis
In den empirischen Naturwissenschaften gilt Introspektion, also die Betrachtung des eigenen psychischen Innenlebens, nicht als beweiskräftige Methode. Der Grund dafür ist, dass die Ergebnisse der Introspektiont von anderen Menschen oft nicht nachvollzogen werden können. Das sieht Haeckel anders, wenn er schreibt: "Bekanntlich spielt gerade die dunkle Frage von Bewußtsein eine Hauptrolle in der psychologischen Kämpfen der Gegenwart. Der berühmte Physiolge Du Bois-Reymond hat in der 'Ignoarbimus'-Rede auf der Leipziger Naturforscher-Versammlung das Bewußtsein als ein völlig unlösbares Problem, als eine Grenze des Naturerkennens bezeichnet, welche der menschliche Geist auch bei weitester Entwickelung niemals überschreiten werde […] Aber auch die erstere Ansicht ist nicht haltbar [Haeckel meint damit die Unklärbarkeit der Bewusstseins-Frage]. Denn aufmerksame Selbstbeobachtung lehrt uns, wie tausendfach bewußte und unbewußte Handlungen fortwährend ineinander übergehen. Zahllose Verrichtungen des täglichen Lebens, wie z. B. der Gebrauch der Trinkgeschirre, der Messer und Gabeln, Lesen und Schreiben, das Spielen musikalischer Instrumente und dergl. beruhen auf verwickelten Tätigkeiten der Nerven und Muskeln, welche ursprünglich mit sorfgältiger Überlegung und klarem Bewußtsein langsam erlernt werden mußten, allmählich aber durch Übung und Gewohnheit völlig unbewußt geworden sind […] Umgekehrt gelangen wieder die verschiedensten unbewußten Handlungen sofort zum klaren Bewußtsein, sobald aus irgendeinem Grunde unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet und die Selbstbeobachtung angeregt wird[1, Seite 24 f.]." Siehe auch Introspektion ↗
Tiere haben Bewusstsein
Über die psychologischen Kämpfe seiner Gegenwart schreibt Haeckel: "Viele andere betrachten das Bewußtsein als einen ausschließlichen Vorzug des Menschen, der allen Tieren gänzlich fehle. Diese letzte Anscht wird sicher niemand teilen, der anhaltend und aufmerksam die bewußten und überlegten Handlungen der Hunde und Pferde, der Bienen und Ameisen und anderer vernünftiger Tiere beobachtet hat[1, Seite 24]." Siehe auch Tiere und Bewusstsein ↗