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Neo-Luddismus


Bewegung


Basiswissen


Als Neo-Luddismus[1] bezeichnet man eine zurzeit lose organisierte gesellschaftliche Strömung. Ihr wichtigstes Merkmal ist eine Ablehnung spezieller Technologien, etwa der künstlichen Intelligenz oder sozialer Medien. Maschinen und Rehner werden als Bedrohung empfunden. Verbindende Werte der Neo-Ludditen sind vor allem der Wunsch nach einer Bewahrung von Menschlichkeit[2] und Autonomie[3]. Die Formen der Ablehnung reichen von gelegentlichem Verzicht bis hin zur aktiven Zerstörung von Maschinen[3].

Historische Wurzeln des Neo-Luddismus


Technologischer Fortschritt und wirtschaftliche Methoden der Steigerung von Effizienz haben schon immer Verlierer hervorgebracht. So wurden in England und Wales seit dem 15ten Jahrhundert allgemein zugängliche Bereiche des Landes rechtlich privatisiert und anschließend oft eingehegt (Enclosure Movement). Die meist privaten Besitzer nutzten die Flächen dann etwa für die Schafzucht (Wollexport nach Flandern) oder eine intensive Landwirtschaft[4]. Auch ohne den Einsatz innovativer Technologien brachte das oft beträchtliche Gewinne an Produktivität[5], gemessen in landwirtschaftlichen Gütern oder auch Geld[6]. Dieser Zuwachs an Reichtum verteilte sich aber nicht gleichmäßig. Vor allem die ärmsten der Armen lebten weiter in erbärmlichen Verhältnissen[7].

Anfang des 19ten Jahrhunderts lebten viele Menschen in England in ärmlichen Verhältnissen ohne Unterstützung durch den Staat.

Um die Zeit von 1800 wurden sie speziell in Großbritannien dann auch Opfer steigender Lebensmittelpreise infolge der Kriege gegen Napoleon Bonaparte. Gesellschaftlich betrachtete man die Armut in England als unabänderliches Übel[8]. In der Zeit ab 1811 mehrten sich dann die Aufstände der Mittellosen. Die rebellierenden Personen nannte man Luddisten, nach ihrem legendären Anführen Ned Ludd. Es kam zur Zerstörung von Maschinen und Produktionsanlagen. Letztendlich wurde eine große Zahl aufständischer Luddisten nach Australien in Sträflingskolonien deportiert oder hingerichtet.

Landesweite Aufstände wurden gewaltsam niedergeschlagen. Es gab zunächst keine Besserung dre Lage.

Eine schnelle Besserung ihrer Lage hatten die Luddisten damit nicht erreicht[9]. Etwas zeitversetzt gab es dann auch auf dem Kontinent Aufstände verzweifelter Arbeiter (z. B. der Aufstand der Weber in Schlesien), was dann, ab etwa 1840 bis 1850 zu einer zunehmenden Annahme des Problems durch die Politik führte[10]. Siehe auch Luddismus ↗

21tes Jahrhundert: von Webstühlen zu Rechenzentren


Das Sinnbild der übergriffigen Maschinen des 19ten Jahrhunderts war vielleicht der Webstuhl. Zurzeit sind es am ehesten Rechenzentren[18]. Während aber der historische Luddismus des frühen 19ten Jahrhunderts eine Verzweiflungstat der ärmsten Schichten der Gesellschaft war[7], leben die oft gut ausgebildeten Neo-Ludditen des frühen 21ten Jahrhunderts in wirtschaftlich guten Verhältnissen[11].

Die Ludditen des 21ten Jahrhunderts leben in wirtschaftlich oft guten Verhältnissen.

Was sie antreibt ist weniger individuelle Betroffenheit sondern eine eher globale und existentielle Sorge um das Wohl der Menschheit als Ganzer. So sehen manche Neo-Ludditen die ökologischen Lebensgrundlagen der Menschheit bedroht und suchen nach Alternativen[12]. Andere haben Angst vor dem Verlust von Kultur[13] oder gar einer Auslöschung der Menschheit durch künstliche Intelligenz[14]. Dabei sind typische Neo-Ludditen[15] keine Feinde von High-Tech an sich. Im Gegenteil. Im Jahr 2023 sahen zwischen 38 % bis 51 % von befragten IT-Fachkräften eine Wahrscheinlichkeit von rund 10 %, dass künstliche Intelligenz zu einer Auslöschung der Menschheit führt[16]. Eine Gemeinsamkeit vieler Neo-Ludditen ist die Angst vor einer existentielle Bedrohung der menschlichen Art durch die sogenannte technologische Singularität[17] ↗

Wenig Zeit zum Handeln: Jethros Window


Angenommen die Ludditen des 21ten Jahrhunderts hätten mit ihren Ängsten Recht, wie drängend ist dann das Problem einer Bedrohung durch Künstliche Intelligenz? Der folgende Gedankengang kann beunruhigen. Angesichts der vielen erdähnlichen Planeten sollten an vielen Stellen im Kosmos menschenähnliche Zivilisationen entstanden sein[19]. Seit etwa 1960 sucht man aktiv nach solchen Zivilisationen[20], bisher aber erfolglos[21]. Ein Grund könnte sein, dass jede mehr oder minder intelligente Zivilisation nur kurz im Stadium einer menschenähnlichen Hochkultur verbleibt und stattdessen über eine technologische Singularität schnell in eine für uns völlig unerkennbare Lebensform wechselt.

Spekulation: die Technologie wächst uns über den Kopf.

Der US-amerikanische Autor Istvan Zoltan schätzt das entsprechende Zeitfenster auf nicht viel mehr als 100 Jahre[22]. Legt man den Beginn einer interstellar kommunikationsfähigen Menschheit etwa auf das Jahr 1960, so müssten wir Zoltan zufolge in den kommenden wenigen Jahrzehnten einer für uns unzugänglichen Intelligenz Platz gemacht haben. Das Fenster zum Handeln schließt sich. Siehe dazu den Artikel zu Jethros Window ↗

Ein möglicher Ausweg: die Bostrom-Bremse


Der schwedische Futurologe Nick Bostrom (geboren 1973) betrachtet die Entwicklung künstlicher Intelligenz vor allem aus der Sicht einer ökononomisch und darwinistisch gedeuteten Evolution. Nur wenn wir im wirtschaftlichen Wettbewerb mit Maschinen bestehen können oder wenn wir die Maschinen uns wohlgesonnen (eudämonistisch) halten können, werden wir in der jetzigen Form überleben.

Langfristig werden wir in direkter Konkurrenz zu Maschinen und künstlicher Intelligenz nicht bestehen können.

Bostrom Grundidee ist es also, die Evolution maschineller Lebensformen gezielt zu steuern. Das aber, so Bostrom könne nur unter einer Weltregierung (dem singleton) gelingen[23]. Mehr dazu unter Bostrom-Bremse ↗

Persönliche Einschätzung


Maschinenstürmerei wie im 19ten Jahrhundert oder gelegentliche Enthaltsamkeit gegenüber Technologien werden den Gang der Welt nicht ändern. Mir[24] erscheinen die Untergangsszenarien für die Menschheit in ihrer jetzigen Form sehr realistisch aber nicht zwingend dystopisch. Vielleicht leben wir bald in Symbiose mit Maschinen[25] oder wir nutzen sie als eine Art neuen Körper[31]. Überzeugend finde ich die Vorstellung, dass sich über geologische Zeiträume hinweg immer wieder neu Komplexitätssprünge wiederholen. Aus Einzellern werden Mehrzeller, aus Menschen werden soziotechnische Überwesen[26]. Wir würden dann als Gattung Mensch vielleicht in einer evolutionären Sackgasse enden[27], aber die Evolution als Ganzes würde Überwesen schaffen, in denen der Geist sich weit entwickeln kann[28]. Vielleicht ist der Kosmos geradezu angelegt für einen solchen Weltprozess[29]?

Aber das sind nur Spekulationen. Meine persönliche Einschätzung ist, dass wir die Dinge zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht voraussehen können. Sicher erscheint mir nur, dass wir Entwicklung vorantreiben, die wir nicht kontrollieren können. Ein Aspekt, den ich mir in diesem Zusammenhang sehr viel stärker betrachtet wünsche ist die Verbindung von Geist und Materie. Darüber wissen wir sehr wenig. Es ist in mir eine bloß vage aber auch sehr nach Wirkung drängende Ahnung, dass die Physik an der Schnittstelle zwischen Geist und Materie unerwartete neue Sichten und Möglichkeiten liefern könnte[22].

Fußnoten