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Whiteheadsche Kohärenz


Originalzitat


Basiswissen


In seinem Buch „Prozess und Wirklichkeit“ schlägt der Mathematiker Alfred North Whitehead ein Kriterium für spekulativ zu erstellende Weltbilder vor, die Kohärenz.

Whiteheads Idee der Kohärenz


Kohärenz nach Whitehead heißt, dass jeder Aspekt (idea) eines Weltibldes keinen Sinn ohne jeden anderen Aspekt dieses Weltbildes ergibt. Dabei schließt er aber aus, dass irgendeines dieser Teile durch die anderen definiert werden darf. Kein Teil kann völlig losgelöst (in complete abstraction) vom Rest des gesamten Universums gedacht werden. Das ist im Kern Whiteheads Konzept der Kohärenz.

Die ursprüngliche Definition von Whitehead


'Coherence,' as here employed, means that the fundamental ideas, in terms of which the scheme is developed, presuppose each other so that in isolation they are meaningless. This requirement does not mean that they are definable in terms of each other; it means that what is indefinable in one such notion cannot be abstracted from its relevance to the other notions. It is the ideal of speculative philosophy that its fundamental notions shall not seem capable of abstraction from each other. In other words, it is presupposed that no entity can be conceived in complete abstraction from the system of the universe, and that it is the business of speculative philosophy to exhibit this truth. This character is its coherence.

Kohärenz ist mehr als Konsistenz


Man nennt ein Theorie, ein Gedankengebäude konsistent, wenn es keine inneren Widersprüche gibt. Wenn etwa innerhalb der Mathematik keine Widersprüche zwischen der Geometrie und der Analysis gibt, dann wäre die Mathematik bezüglich dieser ihrer Teilgebiete konsistent. Die Kohärenz im Sinne von Whitehead geht aber auf zwei Weisen über das logische Konzept der Konsistenz hinaus. Zum einen fordert die Kohärenz, dass ein Teilgebiet nicht vollständig aus dem anderen abgeleitet werden kann. Zum anderen fordert die Kohärenz, dass kein Teilgebiet ohne das andere Sinn ergibt. Es ist für beide Forderungen zweifelhaft, ob sie für das Verhältnis von Analysis und Geometrie erfüllt sind. So leitete Isaac Newton seine Idee des Differentials auf weitgehend geometrischem Wege her und es wäre immerhin denkbar, dass die gesamte Analysis auch Geometrisch gedacht werden könnte. Zum anderen kann man die Geometrie ganz ohne die Analysis denken. Die Geometrie macht auch Sinn ohne die Analysis. Das dürfte aber nach Whitehead nicht der Fall sein, wenn die beiden Teilgebiete kohärent zueinander sein sollten. Whitehead lässt übrigens offen, ob die Aspekte eines kohärenten Gedankengebäudes innere Widersprüche aufweisen dürfen. Damit ist die Kohärenz weder dasselbe wie Konsistenz noch eine Über- oder Unterbegriff davon, sondern hat bestenfalls Schnittmengen mit ihre. Siehe auch Konsistenz ↗

Der naturalistische Fehlschluss als Beispiel für gegenseitige Unabhängigkeit


Whitehead fordert, dass kein Aspekt (idea) eines kohärenten Gedankengebäudes (scheme) auf das jeweils andere reduzierbar sei, also aus ihm abgeleitet werden kann. Das passt sehr gut auf die Grundidee des sogenannten naturalistischen Fehlschlusses[4][5]. Ein typischer solcher Fehlschluss wäre zum Beispiel: weil die Natur ein ewiger Wettkampf ums Überleben zu sein scheint, ist der Kampf auch eine moralische Pflicht, ein Soll. Es gibt jedoch keine logischen Weg, aus einem gegebenen Fakt eine moralische Pflicht abzuleiten. Kein Ist führt logisch zwingend zu irgendeinem Soll. Damit wären zum Beispiel der Sozialdarwinismus und eine mögliche Ethik oder Moral als Teil eines übergeordneten Weltbildes nicht auseinander ableitbar und damit verträglich mit der Whiteheadschen Kohärenz. Siehe mehr zu dem hier vorgestellten Beispiel unter naturalistischer Fehlschluss ↗

Weltanschauliche Erkenntnis als Beispiel


Der französische Anthropologe Pierre Teilhard de Chardin formulierte im Jahr 1916 sein persönlicher Lebensziel als eine Erkenntnis im Sinne Whiteheadscher Kohärenz: „Irgendwo muss sich ein Standpunkt finden, von de aus Christus und die Erde derart aufeinander bezogen erscheinen, daß ich den einen nur zu besitzen vermag, wenn ich die andere umfasse, daß ich mit dem einen nur in Gemeinschaft treten kann, indem ich mit der anderen verschmelze, daß ich nur absolut Christ sein kann, wenn ich ganz Mensch bin.[2]

Basisvektoren als Metaphor für Kohärenz


In der Vektorrechnung gibt es das Konzept linear unahbängiger Vektoren, die als Basisvektoren eines Koordinatensystems gedacht werden können. Kein Vektor für sich alleine würde als Koordinatensystem Sinn ergeben, aber für das ganze Koordinatensystem darf auch kein Vektor fehlen. Insbesondere kann einer der Vektoren nicht als Linearkombination aus den anderen Vektoren abgeleitet werden. Die entsprechende Denkfigur passt gut auf Whiteheads Idee der Kohärenz. Siehe auch linear unabhängig ↗

Spekulative Philosophie als größeres Konzept


Whiteheads Konzept von Kohährenz war ein Aspekt seiner umfassenderen Vision einer spekulativen Philosophie. In dieser muss Whitehead zufolge auch die Phantasie (free play of imagination) ihren Platz haben. Siehe mehr dazu unter spekulative Philosophie ↗

Fußnoten