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Goethes Kantenspektrum


Originaltextauszug aus Goethes Farbenlehre


Basiswissen


Die größte Verrückung des Bildes, ohne dass desselben Gestalt bedeutend verändert werde, bringen wir durch Prismen hervor, und dies ist die Ursache, warum durch so gestaltete Gläser die Farbenerscheinung höchst mächtig werden kann. Wir wollen uns jedoch bei dem Gebrauch derselben von jenen glänzenden Erscheinungen nicht blenden lassen, vielmehr die oben festgesetzten einfachen Anfänge ruhig im Sinne behalten.

212
Diejenige Farbe, welche bei Verrückung eines Bildes vorausgeht, ist immer die breitere, und wir nennen sie einen Saum; diejenige Farbe, welche an der Grenze zurückbleibt, ist die schmälere, und wir nennen sie einen Rand.

213
Bewegen wir eine dunkle Grenze gegen das Helle, so geht der gelbe breitere Saum voran, und der schmälere gelbrote Rand folgt mit der Grenze. Rücken wir eine helle Grenze gegen das Dunkle, so geht der breitere violette Saum voraus und der schmälere blaue Rand folgt.

214
Ist das Bild groß, so bleibt dessen Mitte ungefärbt. Sie ist als eine unbegrenzte Fläche anzusehen, die verrückt, aber nicht verändert wird. Ist es aber so schmal, dass unter obgedachten vier Bedingungen der gelbe Saum den blauen Rand erreichen kann, so wird die Mitte völlig durch Farben zugedeckt. Man mache diesen Versuch mit einem weißen Streifen auf schwarzem Grunde; über einem solchen werden sich die bei den Extreme bald vereinigen und das Grün erzeugen. Man erblickt alsdann folgende Reihe von Farben:

Gelbrot
Gelb
Grün
Blau
Blaurot

215
Bringt man auf weiß Papier einen schwarzen Streifen, so wird sich der violette Saum darüber hin breiten und den gelbroten Rand erreichen. Hier wird das dazwischen liegende Schwarz, so wie vorher das dazwischen liegende Weiß, aufgehoben und an seiner Stelle ein prächtig reines Rot erscheinen, das wir oft mit dem Namen Purpur bezeichnet haben. Nunmehr ist die Farbenfolge nachstehende:

Blau
Blaurot
Purpur
Gelbrot
Gelb

216


Nach und nach können in dem ersten Falle (214) Gelb und Blau dergestalt übereinander greifen, dass diese beiden Farben sich völlig zu Grün verbin den und das farbige Bild folgendermaßen erscheint:

Glebrot
Grün
Blaurot

Im zweiten Falle (215) sieht man unter ähnlichen Umständen nur:

Blau
Purpur
Gelb

Welche Erscheinung am schönsten sich an Fensterstäben zeigt, die einen grauen Himmel zum Hintergrunde haben.

217
Bei allem diesem lassen wir niemals aus dem Sinne, dass diese Erscheinung nie als eine fertige, voll endete, sondern immer als eine werdende, zunehmende und in manchem Sinn bestimmbare Erscheinung anzusehen sei. Deswegen sie auch bei Negation obiger fünf Bedingungen (210) wieder nach und nach abnimmt und zuletzt völlig verschwindet.