Bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation
Quantenphysik
Basiswissen
In der Quantenphysik werden Naturgesetze nur noch als Wahrscheinlichkeitsaussagen interpretiert: die Wahrscheinlichkeiten geben an, wie oft man im Schnitt ein bestimmtes Messergebnis erhält, wenn ein Versuch sehr oft durchgeführt wird. Betrachtet man die Quantenphysik als letztendlich fundamental, werden alle Naturgesetze zu Wahrscheinlichkeitsgesetzen. Hier ist kurz vorgestellt, was daran so revolutionär sein soll.
Die bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation
Die bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation oder bornsche Regel (vorgeschlagen 1926 von Max Born), ist als Interpretation der quantenmechanischen Wellenfunktion ein wesentlicher Bestandteil der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik. Sie beschreibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei der Durchführung einer Messung an einem Quantensystem ein bestimmter Messwert auftritt. In ihrer ursprünglichen Formulierung besagt sie, dass die Wahrscheinlichkeitsdichte, das Teilchen an einem bestimmten Punkt zu finden, proportional zum Betragsquadrat der Wellenfunktion des Teilchens an diesem Punkt ist.
Das Doppelspaltsexperiment als Beispiel
Bei diesem Experiment geht Licht durch zwei enge Spalten in einer Wand. Nach dem Durchgang durch die Spalten trifft das Licht auf eine zweite Wand, den sogenannten Schirm. Dort erzeugt es ein sogenanntes Interferenzmuster. Es gibt Rechengesetze, mit denen sehr genau vorhergesagt werden kann, wo auf dem Schirm wie viele Prozent der Lichtteilchen ankommen werden, wenn man sehr viele Lichtteilchen durch die Spalten schickt. Es ist aber völlig unmöglich, eine Vorhersage über ein einzelnes Teilchen zu treffen. Die Rechengesetze geben im Bornschen Sinne nur Wahrscheinlichkeiten für die Messbarkeit an bestimmten Stellen auf dem Schirm an. Mehr dazu unter Doppelspaltexperiment ↗
Das Atomorbital als Beispiel
In der Atomphysik, vor allem aber in der Chemie, wird das Modell der Atomorbitale genutzt. In der Chemie steht es in engem Zusammenhang mit dem Aufbau des Periodensystems der Elemente. Die Orbitale werden dabei oft als Punktwolken unterschiedlicher Dichte um den Atomkern dargestellt. Die Wolkendichte steht für die Wahrscheinlichkeit, in einem kleinen Raumelement in einem kleinen Zeitraum dort ein Elektron anzutreffen. Die Deutung erfolgt nach dem Bornschen Prinzip. Siehe mehr dazu unter Orbitalmodell ↗
Naturgesetze als Wahrscheinlichkeitsgesetze
Im 20ten Jahrhundert gelang es, die bekannten Naturgesetze zur Wärme, Temperatur, Energie, Druck und Dichte auf ein rein stochastisches, wahrscheinlichkeitsbasiertes Teilchenmodell zu reduzieren. Das Ergebnis war die sogenannte kinetische Gastheorie. Später, in den frühen 1920er Jahren formulierte der Physiker Franz Serafin Exner die Vermutung, dass alle Naturgesetze möglicherweise Zufallsgesetze sein könnten. Als Max Born in den späten 1920er Jahren die Quantenphysik rein stochastisch deutete, wurde der fundamentale Zufallscharakter der Naturabläufe zunehmend auch in der Philosophie außerhalb der Physik wahrgenommen. Das Zufällige wurde zu einer beachteten Eigenschaft der Welt, vor allem auch in der Physik[2][3]. Siehe auch So-Sein der Welt ↗
Was ist das Revolutionäre an der Bornschen Interpretation?
Das Revolutionäre an der Bornschen Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Quantenphysik ist die Idee, dass der Zufallscharakter nicht durch eine technische Beschränkung der Messmöglichkeiten entsteht, sondern eine wesentliche Eigenschaft der beoachteten Zustände selbst ist. Wo sich ein Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhält, ist real unbestimmt, bis dass man eine Messung vornimmt. Das beobachtete Teilchen hat bis zum Zeitpunkt der Messung keinen bestimmten Aufenthaltsort sondern existiert nur als „Wahrscheinlichkeitsfeld“. Die Bornsche Wahrscheinlichkeitsinterpretation verschärft die alte philosophische Frage, was denn Existenz oder Sein eines physikalischen Objektes überhaupt bedeuten sollen. Die Frage, was denn Sein (vor allem auch im Sinne der Physik) überhaupt meint, ist die Leitfrage der Ontologie ↗
Fußnoten
- [1] Max Born: Zur Quantenmechanik der Stoßvorgänge. In: Zeitschrift für Physik. Band 37, Nr. 12, 1926, S. 863–867. DOI: 10.1007/BF01397477
- [2] Die Gesetze der Quantenphysik beruhen letztendlich auf Wahrscheinlichkeiten: "Grundsätzlich sagt die Quantenmechanik nicht ein bestimmtes Ergebnis für eine Beobachtung voraus, sondern eine Reihe verschiedener möglicher Resultate, und sie gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit jedes von ihnen eintreffen wird" In: Stephen Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. Englischer Originaltitel: A Brief History of Time. From the Big Bang to Black Holes. Deutsch im Rohwolt Taschenbuch Verlag. 1988. ISBN: 3-499-188-50-3. Dort die Seite 78.
- [3] Dass die moderne Physik nur noch Wahrscheinlichkeitsaussagen trifft, betonte auch der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman (1918 bis 1988): "Von Philosophen wurde die Behauptung aufgestellt, daß, wenn die gleichen Umstände nicht immer zu den gleichen Resultaten führen, Vorhersagen unmöglich sind, was das Ende der Naturwissenschaften bedeuten müßte." Am Beispiel der sogenannten partiellen Reflexion von Licht an einer Glasplatte zeigt Feynman, dass dieses Prinzip nicht mehr gilt. Richtet man zum Beispiel ein Photon in immer derselben Richtung auf dieselbe Glasscheibe müsste das Photon auch immer am selben Zielort A oder B ankommen. Dazu Feynman weiter: "Wir können nicht vorhersagen, ob ein bestimmtes Photon in A oder B anlangen wird. Wir können einzig voraussagen, daß von 100 Photonen, die auf dem Glas landen, durchschnittlich 4 an der Oberfläche reflektiert werden. Heißt das nun, daß die Physik, eine Wissenschaft mit großer Genauigkeit, sich damit zufriedengeben muß, die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Ereignisses zu berechnen, und außerstande ist, genau vorherzusagen, was passieren wird? Ja, das heißt es." In: Richard Feynman: QED: Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie. Piper Verlag. 1. Auflage 1992. ISBN: 3-492-21562-9. Dort die Seite 30. Was hier also aufgegeben wird ist das sogenannte Kausalitätsprinzip ↗