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Rechnen und Sprache


Didaktik


Basiswissen


Seit 2010 unterrichten wir Mathematik von den Klassen 1 bis zum Studium in unserer Lernwerkstatt in Aachen. Ein Fazit: ein sehr großer Teil von Problemen in Mathematik kommt von einer sträflichen Vernachlässigung der Sprache im Mathematik-Unterricht in der Schule.

Sprache ist wichtig für die Mathematik!


Man hört es immer wieder: mein Sohn ist gut in Sprachen, aber zu Mathe hat er keinen Zugang. Oder: manche Leute sind halt in Sprachen gut, andere eher in Mathe. Diese Trennung von Sprach- und Mathematikfähigkeiten in scheinbar zusammenhangslose Bereiche ist irreführend und gefährlich. Untersuchungen aus dem Jahr 2015[5] zeigen eindeutig, dass gute Sprachfähigkeiten eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis der Mathematik sein können. Das ist hier näher mit Beispielen aus der Praxis und Tipps für die Praxis vorgestellt.

Sprache schon eine Barriere in den 1920er Jahren


Der deutsche Pädagoge Adolf Kruckenberg wirkte von den 1920 bis in die 1950er Jahre. Er unterrichtete Rechnen und Mathematik und war ein aufmerksamer und einfühlsamer Beobachter. Er hatte beobachtet, dass Erwachsene das Verständnis für Worte von Kindern oft folgenschwer überschätzen. Er zitierte eine Studie aus den USA aus den 1920er Jahren. Links in der Liste stehen Worte, wie sie oft in Rechenaufgaben vorkamen, rechts der Prozentsatz von Kindern der ersten sechs Schuljahre, die das Wort verstanden:


Sprache und Mathematik im 21ten Jahrhundert


In unserer Lernwerkstatt in Aachen in den 2010er und 2020er Jahren in Deutschland machen wir dieselbe Erfahrung wie Lehrer um 1920. Hier stehen einige Worte und Wendungen als Fragen aufgelistet, die auch Schülern mit guten Noten bis hin die Oberstufe Unsicherheiten bereiten können:


Alogismen als schwierige Worte


Was solche Worte meinen, wird einem nicht in die Wiege gelegt. Es muss gelernt werden. Dabei gibt es neben eindeutigen Worten aber auch mehrdeutige Worte, die ohne Besprechung in die Irre führen können: halbiert man eine Zahl, dann macht man sie halb so groß, wie sie vorher war. Die 4 halbiert gibt die 2. Halbiert man aber ein Brot, dann hat man hinterher noch genauso viel Brot wie vorher. Potentiell verwirrend sind gerade alltagsnahe Worte wie größer, halbieren, Mitte. Solche Worte nennen wir im Zusammenhang mit der Mathematik auch Alogismen ↗

Sprachliche Entkernung als Irrweg


Blicken wir aber in die Schulhefte und Notizen der Schüler, finden wir oft sehr wenige oder gar keine erklärenden Texte. Rechnungen werden nur mit Zahlenbeispielen kurz vorgestellt. Selten bekommen Schüler ausführliche Erklärungen in verständlicher Sprache. Mathematik wird oft schon in der 5ten Klasse sprachlich entkernt - und damit für viele Schüler völlig unverständlich.

Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis vieler Rechenarten ist aber gerade die Sprache. So bereitet die Rechnung 4 geteilt durch 0,5 vielen Schüler (und Studenten) Schwierigkeiten. Ist die Antwort nicht 2? Erst die Versprachlichung bringt Klarheit: 4 durch 0,5 kann man verbalisieren als: man hat 4. Wie viele 0,5er sind darin enthalten? Die korrekte Antwort 8 leuchtet dann sofort ein.

Die Verbindung von Sprache und Mathematik kostet am Anfang viel Zeit, zahlt sich aber bereits nach einem halben bis spätestens einem Jahr mit hoher Rendite aus. Hier sind einige Beobachtungen und Tipps in noch loser Abfolge zusammengestellt, wie man die Rechnen und Sprache enger miteinander verbinden kann.

Tipp: sich sensibilisieren


Drei kleine Kuchen und drei große Kuchen sind gleich viele Kuchen aber es ist nicht unbedingt gleich viel Kuchen. Solche Feinheiten sind bei Textaufgaben und Erklärtexten oft sehr wichtig. Für Unterrichtende lohnt sich immer eine Beschäftigung mit den genauen Bedeutungen von Worten mit Zahlenbedeutungen. Eine Liste dazu steht unter Zahlworte ↗

Tipp: Anschaulich sprechen


"Was ist 10 durch 2?" kann man auch formulieren als: wenn man eine 10 in 5 gleich große Stücke teilt, wie groß ist das jedes Stück? Die erste Formulierung verleitet zu einem mechanischen Rechnen nach starren Regeln. Die zweite Formulierung verbindet die Welt der Zahlen mit der begreifbaren Wirklichkeit. Siehe mehr dazu unter anschaulich rechnen ↗

Tipp: nicht alles schriftlich machen


Wovon ist 8 so viel wie zwei Drittel? Der Sinn dieser Frage ergibt sich erst, wenn man alle Worte in ihrem gegenseitigen Bezug im Bewusstsein hat. Psychologen sprechen hier vom sogenannten Arbeitsspeicher. Kinder und Jugendliche tun sich oft sehr schwer, solche kurzen Sätze nachsprechen zu können. Der Wunsch ist dann groß, sich alles zu notieren, meist wörtlich. Nimmt man sich hier aber die Zeit, dass die Kinder die Sätze ganz aus dem Kopf aufsagen können, dann erschließt sich ihnen oft blitzartig der Sinn. Lies mehr zu diesem Gedanken unter Arbeitsspeicher ↗

Tipp: Wo Rechtschreibung wichtig ist


Mit Google kein Problem, aber mit Büchern schon: wer das Wort Vielfachenmenge im Register eines Buches unter Fielfachenmenge sucht, wird nichts finden. Passiert das mehrmals, nutzt man Bücher irgendwann nicht mehr. Fünf Prozent von Schülern oder mehr haben eine Legasthenie. Was für Legastheniker schwer ist, ist oft auch für andere Schüler nicht leicht. Lies mehr unter Legasthenie und Mathematik ↗

Tipp: Erklärtexte schreiben lassen


a(b+c)=ab+ac: das ist oft die einzige Erklärhilfe, die wir in den Schulheften von Kindern der Klasse 5 und 6 finden, wenn es um das Distributivgesetz geht. So gut wie niemand in diesem Alter aber kann mit solchen Schreibweisen etwas anfangen. Hier hat sich folgende Vorgehendweise bewährt. Man rechnet mit den Kindern sehr viele solche Aufgaben mit echten Zahlen. Man lässt die Kinder mündlich beschreiben, was sie dabei machen. Am Ende soll dann jeder für sich eine eigene Erklärung in Worten aufschreiben. Zum Schluss kann man verschiedene Erklärungen in der Klasse gemeinsam diskutieren. Siehe auch verbalisieren ↗

Tipp: Unklares besprechen


Wenn man ein Brot halbiert, dann hat man hinterher noch genauso viel Brot wie vorhern, noch aufzwei Hälften aufgeteilt. Wenn aber ein Gehalt halbiert wird, dann hat man hinterher nur halb so viel Geld wie vorher: halbieren hat zwei Bedeutungen, die aber für Kinder nicht immer klar sind. Dadurch wird oft die Logik empfindlich gestört und die Mathematik fühlt sich - zu recht - nicht richtig verstanden an. Beispiele zu Worten mit Verwirrungs-Potential stehen unter Alogismen ↗

Tipp: Fachworte lernen


Eine Standard-Situation aus dem Alltag: Schüler der Klasse 10 haben von der Lehrerindigital ein Aufgabenblatt zugeschickt bekommen. Dort steht kurz: löse! Darunter findet ich die Aufgabe: 2x³-8x²=0. Oft fragen wir die Schüler dann, was sie vor sich sehen. Ihnen fällt kein einziges Wort ein. Und damit haben sie auch keine Chance, irgendwo nachzuschlagen. Sie brauchen dann eine Hilfe von außen. Vermutlich wird es bald eine App geben, sodass ein Handy Worte liefert, was es sieht. Aber das ist nur eine andere Form der Abhängigkeit. Und das hat nichts mit Lernen zu tun. Gute Worte wären hier: Kubische Gleichung, Gleichungen, ausklammern, faktorisieren, ganzrationale Gleichungen und ähnliches mehr. Hier macht es Sinn, zu jedem Fachgebiet eine Liste mit allen wichtigen Fachworten anzubieten und diese Fachworte wie Vokabeln auswendig lernen zu lassen. Siehe als ein Beispiel dazu Potenzrechnung ↗

Tipps



Tipps für Autoren



Dehaenes Triple-Code Modell


Der französische Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit den Denkprozessen beim Rechnenlernen. Eine zentrale Erkenntnis ist das Phänomen der Dissoziation: am Rechnen sind ganz unterschiedliche Funktionskreise im Gehirn beteiligt, die vollkommen isoliert voneinander wirken können. Dies wird unterem anderem bei Krankheiten oder nach Unfällen sichtbar. So gibt es Patienten, die komplett das kleine Einmaleins vergessen haben, aber komplizierte Rechnungen wie 13*12 mühelos ausführen. Mit bildgebenden Verfahren und anderen Methoden konnte Dehaene drei große Wirkungskreise mit Gehirn definieren.

Analog-schätzendes Denken


Wir geben ein Beispiel aus eigener Erfahrung: ein Schüler der Klasse 10 mit ausgeprägter Legasthenie bestimmte 3*4 zu "ungefähr" 12. Auf wiederholtes Nachfragen blieb er bei seinem "ungefähr". Nach eigener Schilderung hatte er die Aufgabe über eine gedanklich-schätzende Addition von drei ungefähr 4 Zentimetern langen Streifen gelöst. Durch das Training des visuell-schätzenden Denken gelang es ihm später, durch den bloßen Anblick eines rechtwinkligen Dreiecks dessen Tangenswerte bis auf die zweite Nachkommastelle anzunäheren. Die Fähigkeit einfache Formeloperationen mit dem Tangens durchzuführen wurde dadurch jedoch nicht verbessert. Die beiden Teilfähigkeiten blieben - in den Worten Dehaenes - dissoziiert.

Denken mit arabischen Zahlen


Im Triple-Code Modell steht dies für das, was man in der Dyskalkulie-Therapie oft das Ziffernrechnen nennt. Die Aufgabe 10*0,4 wird nicht dadurch gelöst, dass man sich 10 0,4er Streifen vorstellen und diese gedanklich visuell hintereinanderfügt und die Gesamtlänge abschätzt. Hier wird schnell und sicher auf die Regel zurückgegriffen, dass "mal-10-ist-Komma-eins nach-rechts" bedeutet. Die Rechnung erfolgt hier über eine inhaltslose Manipulation von Symbolen. Irgendwie geartete analoge Vorstellungen der Zahlengröße werden dabei in der Regel nicht aktiviert.

Sprachliches Denken


Zentral in Dehaenes Forschungen ist die Beobachtung, dass die Teilfähigkeiten völlig isoliert nebeneinander her existieren. Ihre bewusste Verbindung und gemeinsame Nutzung muss aktiv gelernt werden. Wie kann das aussehen? Dehaenes Forschungen zeigen, dass die Sprache bei der Lösung mathematischer Probleme eine große Rolle spielt. Wir glauben, dass die Sprache dazu dient, über einen inneren Dialog verschiedene Erinnerungen und Fähigkeiten in koordinierter Form zu aktivieren. Die Sprache ist ein Zugang zu verschiedenen Sinngefügen.

Sinnerschließung


a) Was gibt 10 geteilt durch 0,5?
b) Was gibt 10 geteilt durch 40?

Bis in die Obertufe hinein sorgen diese zwei Aufgaben für Verunsicherung. Sprachlich gefasst, werden die Aufgaben oft sofort richtig gelöst:

a) Ich habe 10. Wie viele 0,5er stecken da drin?
b) Ich habe 40 und verteile sie auf 40. Wie viel kriegt jeder?

Es scheint, als wäre die Fähigkeit zum richtigen Rechnen im Kopf vorhanden, aber als genüge die rein zählenmäßige Darstellung noch nicht sie zu aktivieren. Möglicherweise hat hier die Sprache zwischen dem Zahlenmodul und dem analogen Schätzmodul vermittelt.

Assoziationen


Ägypten? Pyramiden! Worte können Assoziationen wachrufen. Das Sprachmodul in unserem Kopf kann auf vielfältige Weise Worte und Begriffe gruppieren. Die Gruppierung kann über Reime, Sinngemeinschaften oder andere Ordnungskriterien stattfinden. Für das mathematische Denken relevant ist vor allem das aktivieren möglicher Lösungsideen bei unklaren Aufgaben.

Hier einige mögliche Assoziationen


Nullstellen - pq-Formel - Gleichungen
Dritteln - Vierteln - Brüche
durch Null - nicht definiert
und so weiter

Mit Hilfe passender Assoziationen kann man sowohl im eigenen Kopf als auch in Nachschlagewerken Wissen finden und aktivieren.

Kommunikation


Menschen, zumal Kinder, lieben Gemeinschaft. Die Kommunikation von Gedanken macht Gemeinschaft erlebbar. Nehmen wir an, ein Kind habe (erfolgreich) herausgefunden, dass 101 eine Primzahl ist:

"Erst habe ich durch zwei gerechnet. Das ging nicht auf. Da kam eine Kommazahl raus. Durch drei ging auch nicht. 33 wäre zu wenig, 34 wäre schon zu viel. Dann habe ich probiert, durch vier zu teilen. Die Vier steckt ja 5 Mal in der Zwanzig. Deswegen geht sie in die Hundert, 101 also nicht. Das ging schon wieder nicht..."

und so weiter. Man ahnt, worauf das Kind hinaus will. Lässt man das Kind ausreden, ist Geduld gefragt. Im Unterricht ist dafür selten Zeit. Andere Kinder würden schon bald nicht mehr zuhören. Das Ziel wäre es hier, Kindern schon früh eine einfache und klare Sprache beizubringen:

"Ich habe alle Zahlen als Teiler ausprobiert. Nichts ging. Also ist die 101 eine Primzahl."

Festigung


Praktiker aus der Dyskalkulie-Therapie weisen immer wieder darauf hin, dass mathematische Zusammehänge erst dann wirklich begriffen und behalten werden, wenn sie ganz in Sprache gefasst werden. Erst das Verbalisieren sichert den Stoff. Nehmen wir als Beispiel ein typisches Rechenpäckchen:

8:2 = 4
4:2 = 2
8:4 = 2

Erkannt werden soll das Prinzip, dass eine zweifache Halbierung das Gleiche ergibt wie eine direkte Viertelung. Viele Kinder erfassen solche Muster intuitiv recht schnell. Ist das Muster einmal erkannt, gehen Hausaufgaben "ratzefatz" schnell von der Hand. Die tiefere Erkenntnis ist aber bei manchen Kindern bereits einen Tag später wieder weg. Auch ein Transfer, etwa was eine wiederholte Viertelung ergäbe, findet nicht statt. Eine Festigung und Verbindung mit anderen Wissensinhalten tritt aber oft ein, wenn das halb-bewusste Prinzip über eine verständliche Sprache bewusst gemacht wird:


Erst das Verbalisieren von Erkenntnissen erschließt den Sinn. Die Sprache stellt Verbindungen her zwischen verschiedenen Wissensgebieten.

Ästhetik


Dozenten von Kinderuniversitäten berichten, dass neu verstandene Fremdworte von den Kindern wie Trophäen mit nach Hause genommen werden. Worte sind Zauberformeln in Klein. Sie stehen für den Zugang zu geheimnisvollen Welten. Ihr Klang und ihre Konnotationen haben einen oft sinnlich wahrnehmenbaren Zauber. Dies liegt freilich bei jedem Kind und Erwachsenen anders. Aber grundsätzlich gilt: Wörte haben ihre eigene Ästhetik. Auch diese Ästhetik kann mit der Mathematik verbunden werden. Im folgenden möchten wir zeigen, welche kleinen Schritte beim Lernen dazu führen, die Mathematik mit der Sprache zu verbinden.

Passiver Wortschatz


Der passive Wortschatz sind die Worte, die man versteht. In den 1920er wurde in den USA eine Studie zum Wortverständnis von Kindern aus den ersten 6 Schuljahren durchgeführt. Hinter dem Wort steht der Prozentsatz der Kinder, die das Wort richtig deuteten:

to spend - 82%
each - 38%
equal - 50%
subtract - 61%
sum - 31%
reasonable answer - 38%
per yard - 63%

Bis heute hat sich daran wenig geändert. Ab welchem Alter wussten Sie was ein Deich ist, was ein Rabatt war, was genau senkrecht bedeutet und Fläche meint?

Wie gering der passive Wortschatz von Kindern oft ist, das müssen wir uns immer wieder bewusst machen. Hier einige Problemworte aus unserer Praxis:


Textaufgaben müssen oft mehrfach gelesen werden. Jedes Wort sollte durchaus einzeln und in Ruhe besprochen werden.

Aktiver Wortschatz


Der aktive Wortschatz sind die Worte, die man selbt auch wirklich nutzt. In der Mathematik spielt er zwei Rollen: zur Vermittlung eigener Gedanken und zur Orientierung in Büchern und Nachschlagewerken. Auch hier sollten sich Erwachsene bewusst halten, wie selbstverständlich sie Fähigkeiten nutzen, die Kinder erst langsam erlernen müssen.

Nehmen wir an, wir haben die folgende Gleichung:

x^4 - x^2 = 0

Unter welchen Stichworten kann man im Internet oder in einem Buch nach Lösungshilfen suchen? Hier helfen Assoziationen weiter. Überlegen Sie selbst einmal einige Minuten, bevor sie weiterlesen. Hier ist nun eine mögliche Liste von hilfreichen Suchbegriffen:


Eventuell muss man noch Variationen zu den Worten durchzuspielen: Mit oder ohne Bindestrich? Gleichung oder Funktion? Substitution oder Substitutionsverfahren? Etc. etc.

Stücke statt Sätze


Wenn der folgende Dialog normal erscheint, dann stimmt etwas nicht:

Lehrer: "Was meint Steigung?"
Antwort: "Y2 minus Y1 geteilt durch X2 minus X1."
Lehrer: "Sehr gut."

Hier liegt ein häufiger Kategorienfehler vor. Die Frage zielt auf einen Sinngehalt ab. Die Antwort ist ein Verfahren. Dass das nicht passen kann, wird an einem überspitzen anderen Beispiel klar: Frage: Was ist ein Bahnhof? Antwort: Da muss man geradeaus gehen, dann links abbiegen. Hier wurde eine Anleitung gegeben aber keine Bedeutung vermittelt. Der Sozialkritier Herbert Marcuse sah so etwas als Ausdruck eines sehr viel tiefergehenden Verlustes der Kultur. Wo Bedeutung verloren geht, gehen auch Sinn und Denken in Alternativen oft verloren. Siehe dazu der eindimensionale Mensch ↗

Zeit zum Worte Fischen


"Wer hieß gestern der erste Mensch, mit dem ich nach 12.00 Uhr mittags gesprochen habe?" Man weiß die Antwort, es dauert aber einige Zeit, den Namen herauszufinden. Der latent angelegte Zugang zu Worten braucht immer etwas Zeit. Sich diese Zeit zu nehmen sollte ein selbstverständlicher Teil des Lernens sein.

Nehmen wir wieder ein Beispiel. Auf dem Tisch liegt ein Oktaeder aus Flußspat. Die Aufgabe lautet, eine Formel zu fiden, mit dem man sein Volumen berechnen kann. Unter welchem Stichwort könnte man nachschlagen? Wenn man Kindern hier ausreichend Zeit lässt, kommen je nach Alter Begriffer heraus wie Körper, Gegenstand, Form, Pyramide, Doppelpyramide oder Oktaeder selbst. Der Vorgang kann aber lange Minuten dauern. Es ist unsere Erfahrung, dass sich die Geduld lohnt. Mit der Zeit finden sich passende Worte immer schneller. Das ist eine gute Grundlage für den Umgangm mit Nachschlagewerken.

Rechtschreibung


Angenommen, wir möchten im Register eines Buches oder in einem Computer nachschlagen, wie das Vierteln funktioniert. Jüngere Kinder und solche mit Rechtschreibproblemen probieren dann oft Folgendes:


Eine Suche außerhalb des Internets wird erfolglos bleiben. Die Kinder müssen sich letztendlich mit ihrer Unkenntnis der Orthographie "outen". Um die lästige und peinliche Routine zukünftig zu vermeiden, werden sich Lehrer und Schüler vielleicht auf den mündlichen Austausch beschränken. Der Schüler wird aber dadurch nicht hingeführt zu einer Benutzung von Nachschlagewerken. Aus der Praxis genügt aber auch hier wieder etwas Anfangsgeduld. Auch hartgesottene Legastheniker kennen ihre typischen "Baustellen". Haben Sie die Zeit und den Freiraum "F" und "Vogel-V" zu probieren, etwas mit "ie" und "ohne ie" zu suchen, dann kommen auch sie ohne die Hilfe anderer aus.

"Vogel-V" und "F" zu probieren, führt hin, auch andere Schreibweisen zu variieren. Schreibt man Achsen-Symmetrie mit oder ohne Bindestrich? Heißt es Wendepunkt oder Wendestelle?

Das Probieren verschiedener Schreibweisen kann hier als Anlass genommen werden, Symbol und Inhalt vorsichtig voneinander zu lösen und das abstrakte Denken langsam vorzubereiten. Siehe auch Legasthenie und Mathematik ↗

Alltagsnahe Sprache


Neben der um Korrektheit bemühten mathematischen Fachsprache gibt es eine eher um intuitive Handhabbarkeit bemühte Alltagssprache. Die Alltagssprache wird dabei nicht vorrangig von Kindern verwendet, sondern sie findet sich vor allem in Zeitungen für Erwachsene. Dazu einige Beispiele:


Im Unterricht sollten am Anfang vorzugsweise die alltagsnahe Begriffe verwendet werden und dann der mathematische Fachbegriff folgen.

Synonyme


Ein weiterer Schritt hin zum abstrakten Denken ist die bewusste Nutzung von Synonymen. Wenn unterschiedliche Worte sich sehr weitgehend in ihrer Bedeutung decken, nennt man sie Synonyme. "Senkrecht" und "Vertikal" sind in diesem Sinne Synonyme. Sie decken sich weitgehend, nicht aber ganz. Vertikal bedeutet meist so viel wie "Richtung Erdmitte", "so wie ein Stein fallen würde". Senkrecht teilt diese Bedeutung, hat aber noch zusätzlich die Variante von "Senkrecht auf". Eine Balken, der senkrecht in die Hauswand führt, verläuft also waargrecht, ganz sicher nicht vertikal. Im Unterricht immer wieder neu Synonme in dieser Weise zu diskutieren bringt viele Vorteile:


Beispiele für Synonyme, die gewinnbringend bereits in den unteren Klassen in's Spiel gebracht werden können sind:


Sprechen


"Darf ich mir das Aufschreiben?" - man darf und sollte auch "nein" sagen. Bedeutungen erschließen sich erst, wenn man mehrere Inhalte über einige Sekunden hinweg gleichzeitig im Bewusstsein hält. Die Lage etwa der Punkte (3|4) und (5|4) in einem Koordinatensystem. Das Sprechen unter Ausschluss schriftlicher Notizen stärkt gerade das kurzfristige Arbeitsgedächtnis. Das Denken kann mit der Zeit immer mehr Inhalte gleichzeitig festhalten. Gerade darüber werden tiefere Prinzipien überaupt erst erfasst.

Für das Erlernen des Verhältnisbegriffes macht es beisielweise einen großen Unterschied, ob der Dialog eher atomar oder eher ganzheitlich abläuft:

Lehrer: "In welchem Verhältnis steht die Acht zur Zwei?"
Atomar: "Vier"

Alternativ ganzheitlich:
"Die Acht ist das Viefache der Zwei. Viermal die Zwei gibt wieder Acht."

Gerade Kinder mit Richtungsunsicherheit profitieren spürbar schnell davon, ihre Gedanken zu größeren Satz- und Sinneinheiten zu organisieren. Bessere Kinder schreiten damit sichtbar gut zum Erfassen komplexerer Zusammenhänge voran.

Konkurrenz


Unter Konkurrenz verstehen wir hier das sich gegenseitig stützende Nebeneinander-Fließen von Sinnbegriffen in unterschiedlichen Denkweisen.

Im Bereich der positiven Zahlen konkurrieren etwa "mal zwei" und "größer-werden": Wenn ich etwas mal-zwei-rechne, dann wird es größer. Die Konkurrenz überträgt sich aber nicht in den erweiterten Zahlenbereich der ganze Zahlen. Wenn ich eine Minuszahl mal zwei rechne, wird das Ergebnis kleiner als die Ausgangszahl. Der Spruch "mal zwei macht größer" wäre jetzt falsch. Unserer Erfahrung sind solche Sinnbrüche gerade in den Klassen 5 bis 8 sehr häufig. Sie hängen mit der Erweiterung der Zahlenbereiche und der Rechenarten zusammen. Wo sie nicht thematisiert werden, hinterlassen sie bei den Kindern oft genug das Gefühl, Zahlen nicht mehr zu verstehen. Werden sie aber ruhig und ausgiebig besprochen, stärkt man wiederum das abstrakt-logische Denken. Typische Sinnbrüche durch Konkurrenzverlust sind:


Überladung


Überladung ist ein Fachbegriff aus der Informatik. Man versteht darunter, dass ein und derselbe Befehl für mehrere Programme oder Bedeutungen stehen kann. Überladungen sind also Teekessel-Worte. In der Mathematik der unteren Klasse ist es die Überladung der Rechenzeichen, die häufig für Verwirrung sorgen. Das kanonische Beispiel ist die Division. Die folgenden Mini-Textaufgaben können alle mit der gleichen Rechnung beantwortet werden:


Fremdwortparadoxon


Jüngere Kinder lehnen Fremdwort oft ab oder fühlen sich von ihnen überfordert. Ab etwa der Klasse 8 beginnen dieselben Schüler instinktiv diese Worte zu meiden. Sie halten sie für unmathematisch oder kindlich. Lies mehr unter Fremdwortparadoxon ↗

Übungsaufgaben dazu



Hintergründe



Fußnoten